Ein Lebenslauf

Ein Lebenslauf:

Über Nicolaus Sombart

Nicolaus Sombart: Un Chemin Européen

In französischer Sprache veröffentlicht in:
Documents. Revue des Questions Allemandes 4/98. Seite 122–125. Ins Französische übersetzt von Aline Floret.

Von Philipp Gürtler

Nicolaus Sombart, der vor zwei Jahren seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag feierte, engagierte sich dreißig Jahre als internationaler Berater am Europarat aktiv für ein geeintes und weltoffenes Europa, insbesondere für die deutsch-französische Freundschaft. Erst 1982 kehrte er – nach seinem Ruf als Fellow ans Wissenschaftskolleg in Berlin – wieder in die Stadt seiner Herkunft zurück. Dort konnte er sich seinen literarischen und wissenschaftlichen Schriften widmen, an die Tradition des Berliner Salons seiner Mutter Corina Sombart anknüpfen und Menschen verschiedenster Provenienz und Nationalität zu freiem Dialog zusammenführen.

Jugend in Berlin. 1933 – 1943. Ein Bericht

1984 erschien das Buch »Jugend in Berlin«, ein erster Teil der Memoiren Nicolaus Sombarts, die humorvoll, elegant und nonchalant, aber mit leiser Melancholie von seiner nicht alltäglichen Kindheit und Jugend und seinem Elternhaus im Grunewald berichten. Lebendig wird ein Ausschnitt des Milieus bürgerlich-deutscher Hochkultur der dreißiger Jahre mit seinen Vorlieben und Widersprüchen und seiner ambivalenten Haltung zum Nationalsozialismus geschildert. Die großen und erschütternden Zeitereignisse dringen allerdings nur punktuell in die behütete großbürgerliche Welt der Kindheit und Jugend ein.
»Jugend in Berlin« ist eine atmosphärische, sich in vielen Facetten entfaltende Milieubeschreibung, die – dem roten Faden der Erinnerungen folgend – von sich berührenden und kreuzenden, zusammen- und wieder auseinanderlaufenden Einzelschicksalen und Begebenheiten durchwoben ist. Die Beschreibungen sind jedoch nicht ganz frei von Idealisierungen, die sich mit der großen zeitlichen Distanz im stellenweise nostalgischen Rückblick einstellen. Durch den Salon seiner jungen, mondänen Mutter lernt der junge Nicolaus bedeutende deutsche und ausländische Persönlichkeiten der Zeit kennen. Von vielen weiß er Charakterisierendes aus kindlich beobachtender Perspektive und in nachträglicher Reflexion zu erzählen. Einfühlsam beschreibt er sowohl sein ungewöhnliches Verhältnis zum bereits über siebzig Jahre alten Vater, dem bekannten Nationalökonomen Werner Sombart, wie auch seine freundschaftliche Beziehung zum Staatsrechtler Carl Schmitt, der als älterer Mentor mit dem jugendlichen Nicolaus auf langen Spaziergängen anregende Gespräche führt und ihn an seinen Denkprozessen beteiligt. Schmitt erscheint als geistreiche und sympathische Persönlichkeit, die sich mit einer Aura des Geheimnisvollen zu umgeben versteht und so fasziniert. Die Passagen über ihn erhellen seine Denkweise und Psyche und den Prozeß seiner sich in den frühen vierziger Jahren zaghaft vollziehenden Abwendung vom Nationalsozialismus.

Carl Schmitt – Die deutschen Männer und ihre Feinde

Die spätere Distanzierung Nicolaus Sombarts von seinem einstigen Mentor Carl Schmitt wird in »Jugend in Berlin« zugunsten angestrebter Authentizität noch zurückgestellt. Das 1991 erschienene Buch »Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos« ist wissenschaftlich-essayistisches Resultat des Distanzierungsprozesses und der langjährigen Auseinandersetzung mit dem Werk und der Persönlichkeit Carl Schmitts. Die Studie sucht Einblicke in den soziologischen, historischen und mentalitätsgeschichtlichen Kontext der Entstehungsbedingungen seiner Schriften und zentralen Theorien zu vermitteln. Sombarts Interpretationen verbinden die intime Kenntnis der Persönlichkeit Carl Schmitts mit psychoanalytischem Spürsinn und erschließen zum Teil neue und überraschende Erkenntnisse. Diese betreffen unter anderem Schmitts Kritik der „Politischen Romantik“, die Freund-Feind-Unterscheidung, den Dezisionismus und die Staatstheorie und leiten über zur Diskussion seiner späten Wendung vom Land zum Meer, einer Wendung von patriarchalisch-machtstaatlichen zu matriarchalischen Ordnungsmodellen. Dabei geht es Sombart vor allem auch um die Ermittlung von Carl Schmitts „Psychogramm“, dessen soziogenetische Herkunft eruiert und dessen Konsequenzen für Spezifika seiner Theoriebildung analysiert werden. In diesem Zusammenhang und im zeitgeschichtlichen Kontext werden Carl Schmitts machtstaatlich-militaristische Optionen und Obsessionen ebenso aufgedeckt, wie sein antiliberaler Affekt, seine unterschwelligen Ängste und Abwehrstrategien gegen alles vermeintlich Weibliche, Anarchische und Fremde. Der psychomentale Hintergrund und die Absichten seiner Theoriebildung werden damit ins Blickfeld gerückt. In Verbindung mit dem Versuch, Gründe für Schmitts Antisemitismus zu finden, gelangt Nicolaus Sombart zu interessanten, jedoch teilweise allzu konstruiert wirkenden und schwer nachvollziehbaren Spekulationen.
Das ermittelte „Psychogramm“ oder sogenannte „Carl Schmitt-Syndrom“ beansprucht, für die psychische Disposition und weltanschaulich-politische Haltung „deutscher Männer“, die zur bestimmenden konservativ-deutschen Intelligentija der ersten Jahrhunderthälfte gehörten, in vielen Hinsichten prototypisch zu sein. Nicolaus Sombarts Studie ist daher auch als Diskussionsbeitrag zu einer „Theorie des deutschen Sonderweges“ konzipiert.
Selbst wenn man an der prototypischen Geltung bestimmter psychischer Dispositionen Carl Schmitts zweifelt oder einige überspitzte Überlegungen Sombarts für wenig plausibel hält, muß man ihm zugestehen, nicht nur in bezug auf Carl Schmitt auf wichtige Zusammenhänge hingewiesen und Fragen aufgeworfen zu haben, die zu weiterer Forschung herausfordern.

Unter variierenden Aspekten befaßt sich Nicolaus Sombart mit historisch-soziologischen Phänomenen der deutschen Vergangenheit, die sich zum Syndrom des „deutschen Sonderweges“ verbinden. Neben der Essaysammlung »Nachdenken über Deutschland« (1986) gehören zu seinen erwähnenswerten kleineren Essays die Studien »Männerbund und politische Kultur in Deutschland« (1988) und »Der Beitrag der Juden zur deutschen Kultur« (1989). Auch das 1996 erschienene Buch »Wilhelm II.. Sündenbock und Herr der Mitte« nimmt viele früher angesponnene Fäden wieder auf.
Nicolaus Sombarts Schriften zielen darauf ab, tendentielle oder partielle Entwicklungen, die einem „deutschen Sonderweg“ verwandt sind, im Ansatz zu erkennen und zu vermeiden. Er stellt ihnen als Remedien alternative Gesellschaftsentwürfe entgegen. Ein fester Topos in den Schriften und im Leben Nicolaus Sombarts ist das utopische Projekt der sexuellen Befreiung von Frau und Mann, das Projekt einer vollständigen Emanzipation der Menschen hin zu einer „Zukunftsgesellschaft“, die für alle einen optimierten Möglichkeitsspielraum individueller Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung bietet. Unermüdlich weist er auf die "entscheidende Rolle der Frau für die künftige Menschheitsentwicklung" hin und rekurriert auf vergangene Zukunftsutopien und Projekte, die theoretisch ausgearbeitet oder vorbildhaft gelebt wurden: auf Auguste Comte und Claude Henri de Saint-Simon, auf Madame de Staël und Juliette Récamier, auf die Saint-Simonisten, Fourier und Otto Gross. In modifizierter Form knüpft Nicolaus Sombart an diese Traditionsstränge an, um das innovative Potential vergangener Möglichkeiten in einer gewandelten und sich wandelnden Gesellschaft zu aktivieren und fruchtbar zu machen.

Pariser Lehrjahre. 1951-1954. Leçons de Sociologie

Die Pariser Lehrjahre sind die Memoiren des siebzigjährigen über den jungen Nicolaus Sombart, der nach seiner Promotion bei Alfred Weber in Heidelberg, einer kurzen liaison mit der Gruppe 47 und einem Studienintermezzo bei Benedetto Croce in Neapel mit einem soziologischen Habilitationsprojekt nach Paris kommt. Schon bald konkurrieren Bücherwelt und Lebenswelt um seine Zuneigung, – zunächst wird daraus eine ménage à trois, doch erliegt er schließlich den Verlockungen der vie expérimentale, wie sie Claude Henri de Saint-Simon empfiehlt, und verlagert seine Energie auf experimentelle „soziologische“ Feldstudien im Paris der fünfziger Jahre. In die ersten Erlebnisse der Stadt fließen zahlreiche Stereotypen und literarische Wahrnehmungsmuster ein, die dem jungen Deutschen, der vor allem Balzac gelesen hat und gerade aus dem professoral-kleinstädtischen Heidelberg der Nachkriegszeit kommt, im Kopf umherwirbeln und eine euphorisiert-erotisierte Stimmung erzeugen. Die Erwartungen erfüllen sich, aber meistens auf unvorhergesehene Weise. Paris wird für ihn zur großen Initiation in die Welt, in die Welt der Kultur, des Kultivierten, der großen Gesellschaften, der Frauen und der Abenteuer, – der erotischen und der intellektuellen.
Die Pariser Lehrjahre sind ein autobiographischer Bildungsroman und zugleich fröhliche Wissenschaft, mit spielerischem Ernst betrieben und entfaltet, ein Erotikon und auch ein Essay über die Genese der Soziologie. Der literarische Essay spannt einen weiten Bogen von Auguste Comte, Claude Henri de Saint-Simon, Madame de Staël und ihrer Gesellschaft auf dem Schloß Coppet, bis hin zur bezaubernden Juliette Récamier, der "demi-vierge de la chaire" (Maxime Leroy), und ihrem Kreis der Verehrer und Liebhaber Chateaubriand, P.S. Ballanche und Nicolaus Sombart. Zum jüngsten der "couples des amoureux sacrés" werden George Bataille und Laure erhoben. Theoretische und praktische Essays zu Partouze und Orgie fehlen selbstverständlich nicht, da sie natürlich zum Repertoire der vie expérimentale gehören. Licht- und Schwerpunkte der Pariser Lehrjahre sind die zahlreichen amourösen und erotischen Abenteuer, die mehr als einfache Abenteuer sind. So kulminiert das Kapitel Les cris d“Annette nicht nur, wie man anfangs vermutet, in der Verwirrung des jungen und unerfahrenen Deutschen über ihre ihn erschreckenden Urschreie, sondern es findet seinen definitiven Höhepunkt erst in der sich anschließenden Geschichte Annettes, die in die Zeit der Résistance zurückführt und die sich ebenso spannend liest, wie sie nachdenklich stimmt. Die Pariser Lehrjahre scheinen das vorangestellte Motto von Max Ernst beweisen zu wollen: "La nudité de la femme est plus sage que l“enseignement du philosophe." Die friedfertigen Eroberungen des jungen Napoléon der grandes déculottées sind Initiationen in die mystifizierten Geheimnisse der Frau und der Sexualität und in den Eros der Soziologie.
Spannend lesen sich die Kapitel über Begegnungen und Gespräche mit Zeitgenossen, etwa über die Freundschaften mit dem verehrten Pierre Bertaux oder dem kritisierten Emile Cioran, über den eindrucksvollen Gaston Bachelard und seine Tochter oder die kurze und amüsante Begegnung mit Henri Michaux. Nicolaus Sombart berichtet von Bekanntschaften mit Alfred Grosser, Raymond und Jean Paul Aron, Pauline und Victor de Pange – und über aufschlußreiche Gespräche mit Maxime Leroy, Alexandre Kojève oder Carl Burckhardt, Sombarts Vorbild des honnête homme. Man erfährt Merkwürdiges über den skurill-mysteriösen Joseph Breitbach, der seine Gäste erst nach Mitternacht empfängt, oder über Anne de Biéville, der Nicolaus Sombart in eine ebenso geschickt inszenierte wie "perfide Sexfalle" zu locken sucht.
Die Pariser Lehrjahre sind ein Aphrodisiacum, ein spritziger Cocktail mit einem Schuß Selbstironie, den man Schluck für Schluck genießen, aber auch in einem Zug trinken kann, wenn man sich berauschen will. Man beginnt, am Dialog teilzunehmen, den die zahlreichen historischen, literarischen und zeitgenössischen Personen untereinander und mit den beiden Autoren führen, dem jungen und dem sich erinnernden.
Der Leser sollte sich jedoch nicht von den Selbststilisierungen des Autors täuschen lassen. Die Erinnerungen fügen sich nicht selten der Phantasie und den Gesetzmäßigkeiten des dramatischen Aufbaus der Erzählung, die auf Pointen und Plots zugespitzt wird. Manchmal lüftet sich die Maske der Selbststilisierungen ein wenig und der Leser kann, wenn er aufmerksam liest, die leise Tragik eines Scheiterns an der zeitweise bis zum Überdruß bewunderten aristokratischen Pariser Gesellschaft erkennen, zu der dem Autor der Zugang letztlich verwehrt bleibt.
Sein Habilitations-Projekt scheiterte an den immensen Ausmaßen, vor allem aber am verführerischen Leben und am Reichtum der Weltstadt. Sombarts Ideale der vie expérimentale und des honnête homme, die gelebt werden müssen, treten an die Stelle eines lebensfernen Gelehrtendaseins. Im Scheitern liegt ein Gewinn: Nicolaus Sombart trifft den Entschluß, sein Leben der grande cause – dem vereinten Europa – zu widmen. Liest man das Buch, so kann man diese Entwicklung nachvollziehen. In diesem Sinne ist es ein Euroman, der einen nicht nur francophil werden läßt, sondern auch, wie seinen Autor, eurotoman.